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Sprecher für den Toten

Derzeit bin ich in Los Angeles als Aussteller auf einer Messe. Als ich morgens aufgestanden war lass ich die Meldung, dass sich Guenther Freiherr von Gravenreuth erschossen hat. Ich lass dann auch auf Twitter die ersten Kommentare.

Viele meinten, man muesse ihm keine Traene nachweinen. Einige meinten sogar extrem zynisch sein zu muessen wie IT Blitz mit „Die Sonne scheint, der Himmel lacht, Günter hat sich umgebracht“.

Ich erinnerte mich an eine Romanreihe, in der es nebenbei auch um einen „Sprecher für die Toten“ ging. Das war eine Person, die am Grab aufstand und an die Fehler und die Leistungen des Verstorbenen erinnerte. Ich kann das nicht so, wie es angemessen waere, aber zumindest ein Versuch moechte ich machen.

Guenther kannte ich ziemlich lange. Als aktiver CCCler in den 80iger und 90iger Jahren war das nicht zu vermeiden. Er als Abmahn-Anwalt und wir auf der Seite des Hacker und zu Unrecht Verfolgten. So wurde es haeufig dargestellt in der Oeffentlichkeit. Am Ende auch vom CCC und von Gravenreuth selbst.

Aber das Verhaeltnis ging tiefer. Viele pflegten freundschaftlichen Umgang mit ihm, auch ich. Ihn zu treffen, war fuer mich immer eine Freude. Er war ein lebenslustiger und offener Mensch. Einer der 100mal besser mit Kritik umgehen konnte als zum Beispiel meine Wenigkeit.

Die eine Seite von ihm war immer bekannt: Er verschickte Briefe als Tanja, um jemand zum Raubkopieren zu verleiten. Etwas was unsere Polizei und Staatsanwaltschaften nicht tun darf (obwohl es manche Internet Sperr-Debatte verhindern helfen wuerde, wenn die Strafverfolgungsbehoerden auf die Art die echten Anbieter von Kinderpornographie ausfindig machen koennte). Aber er konnte auch übertreiben, so ging auch mal gegen Begriffe wie „Explorer“ vor, weil einer seiner Mandanten diese Marke besass.

Er war fuer das Rechtswesen das, was die Hacker fuer die Computernetze waren. Er ueberschritt manchmal Grenzen, um auszuloten was geht und was nicht. Daher hatte ich sicher mehr Verstaendnis als andere dafuer. Er hatte dabei genau die Mentalitaet die fuer mich immer den Hacker vom Kriminellen unterschied. Er stand zu dem was er tat, vertrat es und war bereit Kritik einzustecken und seine Meinung auch zu aendern.

Immer wieder kamen Diskussionen hoch, wie er gegen arme Schueler und Studenten vorging mit Abmahnungen. Das tat er, haeufig auch zu unrecht. Aber mir ist nicht ein Fall bekannt, wo er – wenn auf der Gegenseite Naivitaet oder Unwissen Grund vorlag – nicht zurueckzog oder Verstaendnis zeigte. Mehr als einmal habe ich erlebt, dass er auf die Abmahngebuehren verzichtete oder auch seine Kontakte nutzte, um jemand zu helfen der von anderen abgemahnt wurde.

Umgekehrt musste ich auch selbst feststellen, dass die abgemahnten nicht immer so naiv war, wie es in der Oeffentlichkeit dargestellt wurde. Einige nannten ihre Webseite nicht-kommerziel und verwendeten Logos, Produktnamen, etc von anderen – und verkauften Werbung. In anderen Faellen lies schon die Domainwahl darauf schliessen, dass diejenigen genau wussten das sie sich mit jemanden anlegen wollten. Diese versuchen auch Grenzen zu ueberschreiten und ich unterstuetze das genauso, den die Rechtsprechung in Sachen Markenrecht war und ist veraltet.

Gravenreith stellte sich der Kritik auch auf den 1. Kieler Netztagen. Wir konfrontierten ihn mit einen seiner Widersacher, ohne das er das vorher wusste. Er nahm es mit Humor. Wir uebergaben ihn eine Urkunde, die klarmachte das die zu dem Zeitpunkt von ihm durchgefuehrte Abmahnungen die Freiheit des globalen Dorfes gefaehrdet wuerde. Er stellte sich der Diskussion und der Kritik. Es war fuer ihn immer genauso lehrreich wie fuer mich.

Gravenreuth war einer von denen, die frei nach dem kategorischen Imperativ handelten oder aktiv provozierten. Auf seine Art war er damit genauso erfolgreich wie andere mit einen BTX Hack. Natuerlich hat er dabei auch immer im Auge behalten, dass Provokation Oeffentlichkeit und Presse bedeutet. Gravenreuth als „Abmahn Anwalt“ mit seiner Bekanntheit konnte nur existieren, weil wir existierten. Weil wir uns an ihn rieben.

Beide Seiten hatten davon Vorteile. Wir nahmen das haeufig zum Anlass in der Oeffentlichkeit auf Fehlentwicklungen bei Urheberrecht oder bei Abmahnanwaelten hinzuweisen – er nahm die Oeffentlichkeit wahr, um sicher auch gut betuchte Mandanten zu gewinnen. Heute nennt man sowas eine Win-Win-Situation.

Dabei hatte er viel technisches Verstaendnis, was damals absolut ungewoehnlich war. Es gibt eine Sammlung von Stilblüten, die er in Zusammenhang mit Computer und Computernetzwerken vor Gericht gesammelt hat. Diese ist nicht nur lustig, sondern zeigt auch ein Licht auf die Rechtsprechung und das Verstaendnis von Staatsanwaltschaft und Richtern zu der damaligen Zeit. Er hatte also auch nie Skrupel gegen seine eigene Zunft den Spiegel vorzuhalten. Das „in der Zeit zurueckgebliebene“ Richter, Staatsanwaelte und Gesetzgeber eines der groessten Gefahren heute fuer unsere Demokratie sind zeigten das „Zugangserschwenisgesetz“ oder die aktuelle Jugendschutznovellierung nur zu gut. Er erkannte das mit seiner Innenansicht schon vor Jahrzehnten.

Spaeter hatte ich nur noch lose Kontakt zu ihm. Er scheint die Grenzen immer mehr ueberschritten zu haben. Am Ende wurde er verurteilt und es ist anzunehmen, dass das auch zu Recht geschah. Er bekam dafuer eine Strafe, die in seinen Alter schwer zu ertragen gewesen sein muss. Am Ende seines Lebens entschied er sich nicht mehr zu seinen Taten zu stehen und er floh mit Hilfe einer Waffe. Ich halte das fuer falsch und unnoetig.

Aber all das … Grenzen zu haeufig und zu weit zu ueberschreiten, Fehler zu machen, am Ende sich umzubringen. Das passiert vielen. Die meisten werden nicht dafuer von der Oeffentlichkeit verurteilt. Auch bei Guenther halte ich das fuer nicht angemessen.

Ich moechte seine Taten als Ganzes im Guten und im Schlechten bewerten. Und wenn ich das tue, kann ich trotz aller seiner Fehler, nur so wie frueher ihn als Mensch weiter respektieren. Ich bin froh ihn gekannt zu haben.

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